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Darwins Alptraum

Dokumentarfilm F/A/B 2004, 107 min
Regie: Hubert Sauper

Großer Fisch frisst kleinen

Der vielfach preisgekrönte Film erzählt in schockierenden Bildern das Gleichnis vom großen und vom kleinen Fisch. Von einer Welt, in der sich immer der Stärkste durchsetzt. Bis keiner mehr überleben kann.

In den sechziger Jahren wurden einige Dutzend Exemplare des robusten und delikaten Nilbarsches im Viktoriasee Tansanias, dem zweitgrößten See der Welt, ausgesetzt. Er vermehrte sich prächtig, fraß jedoch nahezu alle pflanzenfressenden Fische des Sees auf und trug so dazu bei, den Zustand des Sees aus dem ökologischen Gleichgewicht zu bringen.

Die Hoffnung der Menschen auf mehr Nahrung und bessere Einkommen erfüllte sich für die meisten jedoch nicht. Statt des erwarteten Wohlstandes kehrte Not ein, weil die traditionelle Fischerei, Existenzgrundlage vor allem vieler Frauen, fast vollständig verdrängt wurde.

Die Filets des Fisches, bekannt als Viktoriabarsch, werden in die Supermärkte der Industriestaaten verfrachtet. Für die Einheimischen bleiben die ausgeschlachteten Reste. Mit den Flugzeugen, die den Fisch tonnenweise nach Europa bringen, kehren Waffen für die vielen Kriege auf dem afrikanischen Kontinent zurück.

Darwins Alptraum ist ein aufrüttelnder Film, der zeigt, dass Industrialisierung und Export von Produkten in einer globalisierten Welt nicht automatisch allen zugute kommt. Es gibt nur wenige Profiteure, dafür aber um so mehr Armut und Zerstörung der Umwelt.

Filmkritik:

von Angelika Nguyen

Was hat ein Fisch mit einem Gewehr gemeinsam?

Das Cover der DVD erzählt die ganze Geschichte: ein Fisch, der zum Fischskelett wird, das zum Gewehr wird. Der Film “Darwins Alptraum” erkundet die Region um den Viktoriasee im ostafrikanischen Staat Tansania. Früher galt dieser See mit seiner Artenvielfalt als Wiege der Welt. Heute ist es ein toter See, Heimat eines riesigen, bis zu zwei Meter langen Raubfisches, der nach und nach 210 Fischarten vernichtete: der Viktoriabarsch. In den sechziger Jahren wurde er, ursprünglich im Nil beheimatet, im Viktoriasee ausgesetzt. “Eines Nachmittags kommt ein Mann mit einem Eimer, in dem ein Fisch ist – und alles ist aus.” erzählt einer der Anwohner. Vierzig Jahre danach reiste Regisseur Hubert Sauper an den See, um sich die sozialen und ökologischen Folgen dieses launenhaften Experiments anzusehen.

Lautlos beginnt der Film. Wasser bis zum Horizont, Wasser, Wasser - der Viktoriasee, größter tropischer See der Welt. Auf den Wellen der drohende Schatten eines einzelnen Flugzeugs. Langsam tastet sich Sauper an sein Thema heran. Die junge Prostituierte Eliza ist zu sehen, in falscher Vertrautheit mit russischen Piloten zusammensitzend, Straßenkinder mit zerfetzten Kleidern und fehlenden Beinen, der Kontrollturm, in dem die Insekten summen, ein stolzer Fabrikbesitzer, in dessen Firma Viktoriabarsch verarbeitet wird: “Wir geben 1000 Leuten Arbeit mit dem Fisch.” Und immer wieder tauchen die Flugzeuge auf.

Waffen für Afrika

Was bringen die Flugzeuge? Hubert Sauper stellt diese Frage oft und bekommt meist dieselbe Antwort: Sie kommen leer. Erst Jonathan, einst auch ein Straßenkind, jetzt Maler, erzählt von den Waffen. Es ist kein Geheimnis, er hat es aus der Presse, aus dem Radio. Da pendelt ein Luftshuttle ganz besonderer Art. Russische Flugzeuge bringen und holen jeweils nur scheinbar sehr unterschiedliche Fracht: den Viktoriabarsch in die EU und Gewehre nach Ruanda, Kenia, Angola. Weiße Fischfilets für die Welt - Waffen für Afrika. Die Filets schmecken gut, Waffen tun weh. Trotzdem haben sie etwas gemeinsam: beide bringen Arbeit und Geld für die einen und Tod, Krankheit und Elend für die anderen. Die Realität der Globalisierung. Der Film zeigt, wie ökologische Zerstörung mit sozialer Zerstörung Hand in Hand geht.

Keine Jobs

Vor dem Nationalen Fischinstitut steht Raphael Wagara. Mit Macheten, sagt er, hätten sie seinen Vorgänger zerstückelt. Raphael, der nach jedem Satz lächelt. Seine Augen sind blutunterlaufen. “Ich bekam den Job, weil sie ihn getötet haben.” Für einen Dollar pro Nacht wacht Raphael mit seinen giftigen Pfeilen über das Institut. Es gibt keine Jobs mehr rund um den Viktoriasee. Raphael taucht immer wieder auf: in den Booten der Fischer, am Grab eines Bewohners des Hinterlandes, in einer Menschenmenge mit den Flugzeugfotos. Die Gespräche mit ihm gehören zum Schönsten im Film. Raphaels Kenntnis des Ortes und seine ruhige souveräne Art machen ihn zum idealen Fremdenführer. Die kleinen Fischer haben keine Arbeit mehr. Frauen und Töchter werden Prostituierte. Viele bekommen Aids und geben es weiter. Vom Fang des so gefragten Multi-Million-Fisches profitieren nur wenige.

Verwertung einer Delikatesse

Die Spur des Viktoriabarsches führt direkt nach Europa. Zwei Millionen Europäer, weiß der Film, essen täglich Viktoriabarsch. Sie kennen ihn nur in seiner unschuldigen, filetierten Weißheit. Seine Glubschaugen und sein riesiges Maul bleiben in Tansania. In “Darwins Alptraum” haben wir die Möglichkeit, auch die andere Seite des Fisches kennenzulernen. Seine Reste, die die Anwohner des Viktoriasees bekommen: Kopf und Schwanz. Der Film verfolgt mit entsetzender Genauigkeit den Weg der verstümmelten Delikatesse: Ein Laster sammelt ohne irgendwelche Hygienemaßnahmen die Reste zu riesigen Haufen und schüttet sie im Hinterland in den Straßendreck. Frauen hängen die fauligen, schon von Maden befallenen Kadaver zum Trocknen auf, räuchern sie mit Ammoniakgasen, die einer Frau das Auge wegätzten.

Ist Afrika nur Mode?

Ist “Darwins Alptraum” ein verzerrender Horrorfilm? Der den europäischen Schuldkomplex bedient und allen Klischees des geschundenen Kontinents Afrika entspricht? Investigation als Balsam für unser schlechtes Gewissen? So zumindest diskutieren es deutsche Kulturkritiker. Man hat dem Film vorgeworfen, er würde nichts Schönes in Tansania entdecken, sondern effektheischend nur schlimme Sensationen montieren. Damit bestätige er letztlich nur jenes Bild von Afrika, das in europäischen Köpfen existiert.

Aber die Maden in den Fischaugen sind wirkliche Maden, Eliza ist tatsächlich von einem australischen Kunden erstochen worden, die Straßenkinder kochen sich ihre Klebstoffdroge aus den Verpackungen des Viktoriabarsches vor laufender Kamera. Normalität fehlt den Kritikern von “Darwins Alptraum”, aber vielleicht ist sie das? Hubert Sauper, das stimmt, war nicht auf Schönheit aus. Aber dass sie ihm trotzdem vor die Kamera gerät, spricht für Afrika. Da ist der drahtige Raphael, seine kluge ruhige Art und seine Verwunderung über die Fragen, die der Regisseur ihm stellt. Da ist Jonathan, der sein Trauma des Straßenlebens in vielen Bildern verarbeitet, da sind die jungen ernsten Frauen, die majestätisch an der Kamera vorbeisehen.

Bemerkenswert ist der Abspann. Darin widmet Sauper seinen Film sämtlichen Protagonisten: der ermordeten Eliza wie dem Boss der Fischfabrik, den Straßenkindern Kaban, Thomas, Matatiro, Njipi genauso wie den russischen Piloten Dima, Wladimir, Sergej, dem Mann vom Kontrollturm wie der einäugigen Frau, dem Polizeioffizier Marcus wie dem aufklärerischen Jonathan- so, als wolle er sie alle zusammenbringen.

“Darwins Alptraum” ist ein polemischer Film. Er zeigt das Elend fast ohne Pause. Das werfen ihm manche vor. Aber stell dir vor, auf deinem Wochenmarkt gibt es Viktoriabarsch und keiner kauft ihn.

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